Leseprobe (aus Kapitel 4):
Durch viel und wenig / Was macht glücklich?
…
Mira ließ in ihrem Versteck am Waldrand die Party wie einen Film an sich vorüberziehen.
Sie kannte sich nicht mehr mit sich aus. Einerseits war es richtig blöd gewesen,
andrerseits war sie auch ein wenig stolz, jugendlich zu sein. Als hätte sie etwas Neues
geschnuppert, unbekannt und ängstigend, aber doch auch reizvoll.
Diesmal spürte Mira Andis Nähe, noch ehe er bei ihr war. War es sein Duft, seine
Körperwärme, seine Ausstrahlung? Mit geschlossenen Augen hatte sie ihn von weitem
schon kommen sehen. Sie vernahm eine Zaubermelodie, die sie betörte. Ihre Haut wurde
wie von einer sanften Brise gestreichelt, als er sich näherte. Alle Sinne waren
angesprochen. Mira erzitterte vor Freude und errötete, als Andi sie zärtlich auf die Wange
küsste. Sie saßen nahe beieinander, hielten sich an den Händen und schauten verträumt
und glücklich durch den hellgrünen Vorhang aus Lärchenzweigen in die Weite der
Landschaft. Mira atmete mit Andis Atemzügen und meinte sein Herz pochen zu hören.
»Was macht wirklich glücklich?«, fragte Andi plötzlich. Mira gab keine Antwort. Dass du da
bist, dachte sie, wollte es aber nicht aussprechen. In diesem Moment sehnte sich Mira
nicht nach dem Herzen der Welt. Oder war sie schon angekommen?
»Hast du Lust auf ein Mega-Event? Ich lade dich ein.«
Mira wusste nicht, ob sie auf ein Mega-Event Lust hatte oder auf irgendetwas anderes.
Aber sie wäre heute mit Andi überall hingegangen. Mit ihm war schließlich alles ein Mega-
Event.
Wieder gingen sie ein Stück durch den Wald. Mira konnte es sich nicht erklären. Das Grün
der Buchen und Fichten, das Blau des Himmels, die Blumen am Wegrand, noch nie hatte
sie solch intensive Farben wahrgenommen. Auch der Duft war betörender als sonst und
die Vögel zwitscherten unsagbar schön. Aus der Ferne drang gedämpfter Lärm in die Stille
des Waldes, der sich nach Jahrmarkt, Budenzauber und Dult anfühlte.
Andi erwähnte wie nebenbei: »Heute kommt es auf Zärtlichkeit und das rechte Maß in
allem an.«
Das schien Mira nicht schwer zu sein. Sie war gerne zärtlich und großzügig. Aber
Maßlosigkeit konnte ihr keiner nachsagen.
Mira freute sich, als sie das Riesenrad erblickte und fühlte sich an das Gäubodenfest
erinnert, das sie schon öfter besucht hatte. Das war also das Mega-Event, das Andi ihr
heute bieten wollte? Schon wehten ihr Düfte von Döner, Bratwürsteln und gebrannten
Mandeln in die Nase. Das Wasser lief ihr im Munde zusammen. Sie mischten sich in die
große Schar vergnügter Menschen. Viele Mädchen und Frauen zeigten sich in
Dirndlkleidern mit ganz kurzen Röcken oder in knappen Lederpants, dazu eng
geschnürten Lederleibchen, wie sie auf bayrischen Volksfesten neuerdings üblich sind.
Auch viele Jungs fühlten sich offensichtlich in trachtenähnlicher Kleidung wohl. Ihre Hüte
sahen echt scharf aus, fand Mira. Andere trugen, wie Mira und Andi, Jeans und T-Shirts,
so dass sie nicht auffielen.
»Ich habe Freikarten für alle Fahrgeschäfte und Marken für Getränke und Speisen aller
Art. Es sind dir keine Grenzen gesetzt. Wähle aus, wonach du Lust hast!«
Das ließ sich Mira nicht zweimal sagen. Papa und Mama setzten immer einen bestimmten
Geldbetrag fest, der ausgegeben werden durfte. Der Betrag schien ihr vor dem Fest immer
sehr großzügig bemessen, doch nie reichte er weit. Freikarten! Eine super Sache!
Nach einer Bratwurstsemmel, Apfelschorle und einer Stange Zuckerwatte stürzten sie sich
ins Getriebe der Fahrgeschäfte. Mira mochte es wild. Die instinktive Angst vor einer
scheinbaren Gefahr, verknüpft mit dem Wissen, dass alles ein Spiel und mehrfach
abgesichert war, machte den Reiz aus, den Adrenalinkick! Sie wurde nicht müde, alles,
was sie liebte oder noch nicht kannte, auszuprobieren: Breake Dance, Sky Rafting,
Autoscooter, Sky Twister und vieles mehr. Sie kreischten mit den anderen vor Vergnügen.
Andi schlug vor, mit dem Riesenrad eine Runde zu drehen. Mira dachte, »das ist doch
was für alte Leute«, wollte aber Andi nicht enttäuschen. Die Gondeln bewegten sich
schrecklich langsam. Doch es war schön, neben Andi zu sitzen und in die Tiefe zu
schauen. Von hier oben hatte man einen herrlichen Überblick über den Dultplatz.
»Schau Andi, sieben Fahrgeschäfte kennen wir noch nicht. Die schaffen wir auch noch.«
»Meinst du nicht, dass es bald reicht?«
»Sei kein Frosch! Wir lassen doch keine Freikarte verfallen!«
»Meinetwegen! Schau mal, wie weit man von hier aus sieht. Die ganze Stadt und ihre
Umgebung in goldenes Licht getaucht!«
»Riech mal! Bis hier herauf riecht man den Duft der Dult! Einen Steckerlfisch könnte ich
noch vertragen und eine große Flasche Wasser.«
Die Gondel des Riesenrades hatte ihren Höhepunkt überschritten und langsam ging es
nach unten. Jetzt erst fiel Mira der Mann auf, der ihr gegenüber saß. Er war schon alt,
mindestens 35 Jahre, wenn nicht schon vierzig. Er stierte Mira aus glasigen Augen an.
Mira bemühte sich wegzusehen und rückte näher an Andi ran. Als sie ausstiegen, merkte
sie, dass der Mann sich von hinten eng an sie heran drängte. Es war ihr sehr
unangenehm, doch sofort ging Andi dazwischen und bildete einen Puffer.
Andi schimpfte: »Dieser Kotzbrocken! Welch ein widerlicher Bandwurm!«
Mira wunderte sich über Andis Wortschatz. Solche Schimpfwörter hatte sie noch nicht aus
seinem Mund gehört. Er musste sehr zornig sein. Sie wusste nicht, warum ihr auf einmal
übel war. Das Tempo des Riesenrades konnte die Übelkeit nicht ausgelöst haben, eher
das Durcheinander im Magen. Außerdem ekelte sie sich vor dem Mann, der sie so begafft
hatte, wie es ihr vor Kröten ekelte. Sie liebte Tiere aller Art und nahm auch kleine Frösche,
Würmer, Raupen, Spinnen ohne weiteres in die Hand. Aber einmal hatte sie beim
Erdbeeren-Pflücken in etwas ganz Grausliges gegriffen. In hohem Satz war eine dicke
Kröte davon gesprungen. Mira hatte aufgeschrien und sich vor Abscheu geschüttelt.
Seither grauste ihr vor nichts mehr als vor Kröten. Jetzt war ihr echt zum Kotzen übel.
»So viele Betrunkene!«, fiel ihr plötzlich auf. »Und das schon am Nachmittag! Das ist bei
uns am Gäubodenfest anders.«
»Wir sind schon im Bannkreis des Suchtkrötenmonsters«, klärte Andi sie auf. »Es macht
furchtbar Angst, man könne zu kurz kommen und bietet dagegen seine Suchtmittel an:
Geld, Alkohol, Sex, Genüsse aller Art ohne Begrenzung. Es kennt kein Maß nach oben
hin.«